Ein Reisebericht von Clemens Ratschan
Surviving Sajan – wo die Mongolei am wildesten ist
Teil 1: Aufregung am Taimenfluss
Einleitung
Das nördlichste Eck der Mongolei kann man getrost als Sehnsuchtsort bezeichnen. Während der Großteil dieses riesigen zentralasiatischen Landes in den letzten zwei Jahrzehnten mit Asphaltstraßen erschlossen wurde und durch die damit unweigerlich einhergehenden Entwicklungen stark an Ursprünglichkeit und Wildheit eingebüßt hat, ist dort im Norden die Zeit fast stehen geblieben. Nur kleine, zeitweise schwer befahrbare Pisten führen von der Provinzhauptstadt Mörön (oder vom Huvsgul-See) in das Gebiet des Darhad-Beckens, das gemeinsam mit den umliegenden Gebirgen die Fläche Niederösterreichs übertrifft, und doch nur von einigen wenigen tausend Menschen besiedelt wird.
Erdstraßen verbinden das weitläufige Gebiet mit dem Rest der Welt
Jurten im Darhad Becken
Riesige Viehherden, im Hintergrund die markante Horidol Saridag Kette
Das Becken wird im Osten durch die schroffe Horidol Saidag Kette und im Norden und Westen durch die bis deutlich über 3000 m hochragenden Gipfel des Ostsajangebirges geprägt. Mitten durch diese wilde Berglandschaft schneidet der Fluss Shishkhid, der aus den Seen im Zentrum des flachen Beckens fließend auf mehr als 80 km Länge Richtung Westen in die autonome russische Republik Tuwa führt und dort Kleiner Jenissei genannt wird. Am Rand des Darhad-Beckens geht die mongolische Steppe in eine geschlossene Lärchentaiga über, welche die riesigen Weiten Ostsibiriens fast bis hoch ans Polarmeer bedeckt. Nirgendwo ist die Mongolei wilder, und auch nirgendwo ist sie „sibirischer“ als in diesem abgelegenen Eck.
Taiga im Tal des Shishkhid
In Zeiten wie diesen, wo Reisen nach Russland zwar prinzipiell möglich, doch weder erstrebens- noch empfehlenswert sind, bietet dies für Jakob und mich die entscheidende Motivation, hier her zu kommen. Im Zuge früherer Reisen haben wir bereits den weiteren Verlauf des Flusses auf der
tuwinischen Seite bereist (siehe Reisebericht #327), ich war viele Jahr zuvor auch schon an den mongolischen Oberläufen unterwegs (siehe Reisebericht #299). Es fehlt jetzt also nur mehr das Herzstück zwischen dem See und der mongolisch-russischen Grenze. Die zentrale Herausforderung für die Bewältigung dieses Abschnitts ist die Kombination aus schwerem Wildwasser, unzugänglicher Topografie und großen Distanzen. Für eine Befahrung wären eigentlich für wuchtiges Wildwasser geeignete Boote notwendig, mit schweren Booten kann man aber nicht mehr aus eigener Kraft durch die Schluchten oder über die Berge zurück in die Zivilisation kommen.

Ich habe mir schon seit 15 Jahren den Kopf zerbrochen, wie man eine praktikable Tour in diese Gegend legen könnte, etwa durch Zurücklassen eines Raftingboots. Nun wollen wir es endlich versuchen, und zwar doch mit leichten Packrafts. Dabei wollen wir größtmögliche Vorsicht walten
lassen und gefährliche Wildwasserpassagen im Zweifelsfall großräumig umtragen. Kurz vor der mongolisch-tuwinischen Grenze wollen wir diese leichten Schlauchboote schultern und über das Tal eines größeren Zubringers und einen hohen Gebirgspass zurückmarschieren. Die Tour wird ein
kleiner Oberlauf fast zu einer Runde abschließen, den wir am Ende aus den Bergen heraus wiederum mit den Packrafts befahren wollen. Jedes dieser drei Teilstücke – Wildwasser auf großem Fluss – Marsch bergauf und über den Pass – und abschließende Bootsfahrt auf dem kleinen Fluss – umfasst etwa 70 km, mal drei macht 210 km wegloses Gelände, die wir in 16 Tagen draußen bzw. 3 Wochen Gesamt-Reisezeit bewältigen werden.

Die Anreise

Die Anreise steht unter keinem guten Stern. Ich werde in den Wochen davor von einer hartnäckigen Atemwegsinfektion geplagt und muss ein Antibiotikum nehmen, mit den üblichen Nebenwirkungen. Den knapp getakteten Anschlussflug von der Hauptstadt Ulaanbaatar in die Provinzhauptstadt Mörön versäumen wir und verlieren dadurch einen wertvollen Tag. Vor unserer Ankunft führen heftige Niederschläge im Darhad-Becken zu Hochwässern und unpassierbaren Straßen. Unser Fahrer muss einem Bekannten aus der Patsche helfen, der irgendwo festhängt, wodurch sich der Aufbruch um einen weiteren halben Tag verzögert. Eine übliche Sache die uns nicht weiter nervös macht, ganz im Gegensatz zu den stark gestiegenen Wasserständen in den Flüssen – die können wir auf dem wilden Shishkhid nämlich auf keinen Fall gebrauchen!

Unser Fahrer, Jakob und der unkaputtierbare UAZ Geländewagen
Schon unvorstellbar, dass diese ganze Region im Norden und Westen völlig unpassierbar, im Süden und Osten nur über ein paar Erdstraßen mit dem Rest der Welt verbunden ist. Bei günstigen Bedingungen braucht man einen langen Tag, um von Mörön hierher zu kommen. Wir schaffen es – teils mehr in Lachen und Flussläufen als auf dem Trockenen fahrend – in eineinhalb Tagen. Der Fahrer unseres UAZ Allradbusses russischer Bauart hat seine Familie mitgenommen und verbindet den Trip mit Verwandtenbesuchen. Das Packen für den mehrtägigen Familienausflug dauerte nur Minuten. Mit europäischen Kindern völlig undenkbar, aber wohl steckt auch in den „Stadtmongolen“ noch immer ausreichend „Nomadenblut“ - die drei mitgebrachten Sprösslinge machen den langen Ritt über die buckelige Piste ohne jegliches Murren mit. Kindersitze und Sicherheitsgurte sind natürlich hier kein Thema. Nach Beendigung der Tagesetappe in absoluter Dunkelheit durch regendurchnässte Wiesen und Bachbette machen wir bei einer kleinen Siedlung halt, wo wir allesamt in einer Jurte nächtigen. Am nächsten Tag steuern wir schließlich eine Jurte in der weitläufigen Ebene an. Die Kinder freuen sich ihre Cousinen und Cousins zu sehen, und wir werden auf die üblichen Spezialitäten eingeladen, die für mitteleuropäische Mägen nur bedingt zu empfehlen sind.
Impressionen von der Anreise ...





Ankunft bei der Jurte der Verwandtschaft

Schon geht’s weiter, bis wir am frühen Abend den Ort am Dood Tsagaan See passieren und wunschgemäß an dessen Ausrinn abgesetzt werden. Dieser ist großteils seenartig erweitert, sodass wir zwar bemerken, dass der Wasserstand einige Dezimeter über Normal liegt. Wie sich das auf die Strömung auswirkt, werden wir aber erst in den nächsten Tagen wissen und am eigenen Leib verspüren. Dem Fahrer scheint unser Vorhaben jedenfalls nicht sehr geheuer zu sein. Vor der Verabschiedung möchte er nochmal auf Nummer sicher gehen, ob wir die Tour wirklich machen wollen. Ein besseres Gefühl hätte er wohl gehabt, wenn wir wieder in den UAZ gestiegen wären.

Die erste Zeltnacht in der Stille der Steppe wird ein reiner Genuss, am nächsten Morgen sortieren wir unsere sieben Sachen und beladen die Boote. Erstmalig werden wir auf dieser Tour Packrafts mit „internal storage“ System verwenden, wobei es sich schon um eine geniale Sache handelt. Die Luftschläuche können am Heck mittels luftdichtem Reißverschluss geöffnet werden, sodass links und rechts ein großer Packsack im Bootsrumpf untergebracht werden kann. Der dadurch tiefliegende Schwerpunkt unterstützt eine stabile Lage des Boots im Wildwasser, und die Beladung des auf das Boot geschnallten Rucksacks reduziert sich auf Gegenstände, die rasch greifbar sein sollen.

Hier werden wir mit unserem Zeug abgesetzt
Sortieren im Morgengrauen vor dem Aufbruch
Hier starten wir die Bootstour
Mit kräftigen Schlägen legen wir die 20 km lange, seenartige Strecke schon am Vormittag zurück, bis wir an der Mündung des aus dem Norden kommenden Zubringers Tengis Mittag machen. Ein großer Fisch raubt ans Ufer, und beim Ablegen können wir gleich mehrere Taimen („Sibirische Huchen“) erspähen. Es fällt nicht ganz leicht, aber mit der Fischerei wollen wir uns noch gedulden, bis wir den Bereich der hier befindlichen Fischerei-Lodges verlassen haben und ca. 15 km flussab in die menschenleere Wildnis kommen.
Kilometerfressen Richtung Berge
Erst ab der Tengis-Mündung zeigt der Shishkhid sein zorniges Gesicht – er weist aufgrund des Gefälles von etwa 6 Promille beim vorhandenen Abfluss von jetzt geschätzt 150-200 m3/s eine enorm schnelle Strömung auf und reißt uns wie eine schiefe Ebene auf den Talausschnitt zwischen den Bergen zu. Gröbere Verblockungen oder wilde Katarakte gibt es in diesem oberen Teil noch keine, sodass wir nach anfänglichem Herzklopfen – es ist schon eine furchteinflößende Erfahrung, sich hier mit unseren Miniatur Nussschalen den Elementen auszuliefern – rasch Selbstvertrauen fassen. Die Hälse werden gereckt, um vorausschauend trotz der großen Flussbreite und reißenden Strömung rechtzeitig einen sicheren Kurs zu halten, und vor Schwierigkeiten ans Ufer flüchten zu können.
Tengis-Mündung und Blick Richtung Wildnis in den Bergen
Der Fluss wird schnell, aber noch nicht allzu wild
Heißer Spot beim ersten Lagerplatz
Auf dem Bootsritt wird uns klar, dass günstige Stellen zum Fischen speziell bei diesem hohen Wasserstand nur in größeren Abständen von teils einigen Kilometern vorhanden sind. Umso heißer kommen uns die wenigen Kolke und randlichen Bereiche mit Schutz vor der reißenden Strömung vor. Am Abend wird’s dann endlich zum Fischen, wir finden einen Lagerplatz mit verheißungsvollem „home pool“. Jakob gelingt prompt der Fang des ersten Taimen („Sibirischer Huchen“), bei 62 cm noch fast ein Jungfisch, aber immerhin ein guter Start. Es folgt eine Reihe von Mini-Taimen um 20 cm, die sich aggressiv auf die unwesentlich kleineren Köder stürzen. Schon interessant, denn während der gesamten weiteren Reise fangen wir keinen einzigen kleinen Taimen mehr. Hier war wohl ein „Nest“.

Wie in dem berühmten Buch über Huchen und Taimen von Holcik et al. (1988) nachzulesen ist, handelt es sich bei jener im Shishkhid um die auf der weltweit größten Seehöhe lebende Taimenpopulation, nichts desto trotz weist sie ein für die Art durchschnittlich rasches Wachstum auf. Bei den kleinen Taimen handelt es sich also um Jungfische im zweiten Lebensjahr. Das hängt wohl mit den erstaunlich hohen sommerlichen Wassertemperaturen zusammen, was wiederum daran liegt, dass es sich beim Shishkhid um den Ausrinn des großen, aber seichten Dood Tsagaan Sees auf fast 1600 m Seehöhe handelt. Dieser erwärmt sich, wie auch die seenartigen oberen Abschnitte des werdenden Flusses, stark auf.

Noch klein, aber immerhin der erste Taimen!
Noch kleiner – Taimen am Ende des zweiten Sommers
Ab dem nächsten Tag gehen wir auf Taimen Intensivmodus. Wir befischen jeden möglichen Standplatz, wobei es sich um teils wirklich ultraheiß aussehende Stellen handelt. Beim Befischen metertiefer, durch riesige Blöcke eingerahmter Kolke steigt der Puls, der Biss eines kapitalen Taimen muss doch jederzeit bevorstehen. Doch leider Fehlanzeige. Deto am Abend, als wir bei einem Traumkolk anlegen und feststellen, dass sich hinter dem wunderschönen Sandstrand im lichten Lärchenwald eine intakte Blockhütte befindet. Wohl so etwas wie der letzte Vorposten der
Zivilisation für Jäger und Fischer, bevor der Fluss in ein so enges Tal eintritt, dass er auf dem Landweg weitgehend unerreichbar wird.
Jakob in noch gut beherrschbarem Wildwasser
Ultraheißer Kolk
Derselbe Kolk von oben
Wir sind zwar sicherlich nicht die ersten, die hier ihr Glück versuchen, aber die Stelle schaut so gut aus, dass es hier einfach klappen muss! Viele Durchgänge mit unterschiedlichen Ködern später – von Rehhaarmäusen über Streamer über Wobbler bis zu Gummifischen – müssen wir zur Einsicht kommen, dass es mit dem großen Taimen auch hier nichts wird. Doch immerhin gibt es ein denkwürdiges Erlebnis. Als Jakob seinen Wobbler zum x-ten Mal durch den Ausrinn des Kolks zieht, spürt er ganz nah am Ufer einen Ruck, und als er den Köder betrachtet, hängen am Haken einige Schuppen. Taimen-Schuppen! Offensichtlich sind diese Kerle sehr wohl da – wohl gar nicht selten wenn man sie sogar zufällig von außen reißt. Sie sind aber offensichtlich ganz und gar nicht in Beißlaune. Wieso, das werden wir schon bald erfahren, doch bis es soweit ist gilt es noch einige so bedrohliche Erlebnisse zu überstehen, dass ausbleibender Fangsegen zu einem Luxusproblem wird.
Homepool mit Sandstrand
Die Blockhütte dahinter
Die erste Kenterung

Am dritten Tag wird der Fluss laufend noch wilder. Wir arbeiten uns vorsichtig weiter vor, sichten und bewältigen die schweren Stellen gewissenhaft, meist ganz nah am Ufer entlangfahrend. Besonders in Erinnerung bleibt eine markante Engstelle, wo der Fluss quasi eine Pforte zwischen einem 2792 m hohen Berg links und einem 3066 m hohen Riesen rechts durchstößt. Ganz am rechten Ufer finden wir einen Weg, wo der Katarakt ohne Umtragen zu befahren ist, allerdings mit erheblichem Adrenalinausstoß, weil wir mehrfach weiter Richtung Mitte ins brausende Wasser ausschwenken müssen, um kleinen Walzen am Ufer auszuweichen. Umso größer das Hochgefühl flussab – eine noch wildere Stelle würde doch nicht folgen, wir würden es schaffen und wieder wohl aus dem verflixten Tal des Shishkhid herauskommen!

Vor der Einfahrt in heftiges Wildwasser
Im schnellen Katarakt
Doch dieser Schluss ist deutlich zu vorschnell. Der leichte Übermut führt dazu, dass ich vorausfahrend einen etwas mittigeren Kurs wähle, um die Optionen offen zu lassen, gleichermaßen rasch zum einen wie zum anderen Ufer wechseln zu können. Doch zu rasch tauchen unvermittelter
Dinge Walzen auf, die man aus der tief sitzenden Position im Boot erst spät erkennt. In eine fahre ich ein, spüre die gleich Krakenarmen am Boot mit brutaler Kraft zurück in die Falle ziehende Rückströmung, kann aber das Gleichgewicht halten und mich mit forcierten Paddelschlägen aus der fatalen Umarmung lösen. Zu früh gefreut. Die nächste Walze folgt zugleich, ich versuche seitlich auszuweichen, was sich nicht ausgeht sodass ich schräg einfahre. Sekundenbruchteile später kentert das Boot unweigerlich. Inmitten dieses mörderischen Flusses gilt es, die zwei jetzt allerwichtigsten Notwendigkeiten zu bewerkstelligen. Auf keinen Fall das Paddel verlieren, und unbedingt am gekenterten Boot festhalten, was die Gefahr eines Bootsverlustes verringert, oder trotz der Schwimmweste in einer brodelnden Walze zu ertrinken. Beides gelingt, und glücklicherweise konnte der nachfahrende Jakob die eher unauffällige Stelle rechtzeitig erkennen, kühlen Kopfs ausweichen und mir unterhalb zu Hilfe eilen.

Ich greife jetzt mit der zweiten Hand nach seinem Boot und halte mich an, während er versucht, mein einem Treibanker gleichendes Gespann ans Ufer zu schleppen. Und zwar so rasch es geht, denn wer weiß mit welchen neuen Gefahren der Fluss gleich aufwartet? Es dauert eine halbe Ewigkeit, der Wasserwiderstand ist schlicht zu hoch. Erst als die Flusssohle vor einer blockigen Furt etwas steigt (drüber zu treiben hätte blaue Flecken mit sich gebracht!), kann ich mit den Füßen mitschieben und wir erreichen endlich das rettende Ufer. Das war Glück! Wie groß die Erleichterung ist, lässt sich vielleicht daran messen, dass ich gar nicht allzu frustriert bin, in den Fluten eine eigentlich gut befestigte Tasche mit einem teuren Teleobjektiv und der Fotodrohne verloren zu haben, die jetzt wohl Richtung Russland treibt. Zu allem Überdruss ist auch die Kamera in der anderen, eigentlich wasserdichten Tasche abgesoffen und streikt. Hauptsache selbst überlebt!

Der hässliche Moment in dem man erkennt, unweigerlich zu kentern. Die action cam hat alles aufgezeichnet!
Die Löcher der Selbstlenzung dienen als rettender Griff
Jakob schleppt mich ab und paddelt mit Vollgas
Trocknen nach der ersten Kenterung
Es gilt sich nun zu setzen, Motivation und Mut zurück kommen zu lassen. Kalt war das Wasser zumindest nicht, es muss an die 20° warm sein, nach dem langen Bad weiß ich das jetzt ziemlich genau. Und auch, wieso die Fische so schlecht beißen. Taimen sind bekannt dafür, bei so hohen Temperaturen zu verweigern. Fressen sie in der Nacht? Glaub ich auch nicht, denn auch das nächtliche Fischen haben wir erfolglos probiert. 
Fischereilich ruht unsere Hoffnung jetzt auf einigen größeren einmündenden Zubringern, die kaltes Wasser aus den Bergen bringen. Würden sich in den Mündungsbereichen beißwütige Taimen stapeln, die dort dem warmen Shishkhid-Wasser ausweichen? Leider wird auch daraus nichts, die Zuflüsse münden durchwegs seicht und ohne gute Einstände in den Fluss. Allerdings legt sich ein anderer Schalter um: Über Nacht entladen sich die jeden Abend herumziehenden Gewitter mit ausgiebigem Regen. Der Wasserstand steigt noch mal um ein zwei Dezimeter, was den Fluss am nächsten Morgen in einem noch bedrohlicheren Licht erscheinen lässt. Er kühlt sich jedoch merklich ab, und genau das brauchen wir.
Herrlicher Lagerplatz an der Mündung eines Zubringers
Dieser schöne Lenok aus dem homepool wird verarbeitet zu ...
Backfisch mit Chilisauce und Zwiebel
Auf einmal fällt es im Gegensatz zu den Tagen zuvor nicht mehr schwer, den fürs Abendessen notwendigen Lenok zu fangen. An einer Stelle wo ein steiler Nebenarm rückmündet, steht hinter einem Felsbrocken ein wirklich großer Lenok, der zweimal meine Rehhaarmaus nimmt und einmal
einen Streamer, bis er endlich hängen bleibt. Der Shishkhid ist bekannt für große Lenoks (in diesem Einzugsgebiet kommt nur der Spitznasen-Lenok vor, Brachymystax lenok), mit den 68 cm die dieser hier misst ist das Ende der Fahnenstange bei weitem nicht erreicht. Als ich erneut auswerfe, schießt ein knallroter Taimen hervor, wohl fast einen Meter lang, leider kann ich den aber ebenfalls nicht verheften und bekomme keine weitere Chance.
Hinter den Felsen links finden wir eine der besten Stellen des gesamten Flusses
Der 68er Lenok

Surviving Sajan und ausgleichende Gerechtigkeit

Der Ärger darüber relativiert sich rasch, als wir eine brausende Stelle erreichen, wo sich hinter einer quer über den ganzen Fluss reichenden Felsrippe eine heftige Walze bildet. Zweifellos die mit Abstand gefährlichste Stelle bisher! Wir sichten und diskutieren am Ufer stehend, wie weiter vorzugehen sei. Da müssen wir mit größtem Entsetzen erblicken, dass sich mein Boot gelöst hat, und jetzt fast flussmittig auf die Walze zutreibt. Dabei hatte ich es doch einige hundert Meter flussauf gewissenhaft angebunden, wie kann das sein?! Panische Gedanken über die fatalen Konsequenzen schießen durchs Gehirn. Im Boot befinden sich unser Zelt, mein Schlafsack, die unentbehrlichen Kochtöpfe, der Notfallsender. Es bleiben jetzt eigentlich nur hundsmiserable Optionen, nach einem Verlust würde ein Zurückkommen über die Berge zu einem Horrortrip. Das Boot könnte in der Walze hängenbleiben, bis sich die Beladung löst, oder es nach vielleicht Stunden wieder ausgespuckt wird.
Oder es passiert die Walze und schwimmt  weiter, um irgendwo ans Ufer gespült zu werden. Völlig unklar, ob diese Stelle irgendwie erreichbar sein würde, und ob das vor der russischen Grenze der Fall wäre.

Packraft vor dem Eintritt in die fatale Walze
Wir trennen uns, ich haste am Ufer hinterher, Jakob wechselt per Boot das Ufer und wird dort die Walze umtragen und nachkommen. Es handelt sich um den absoluten Tiefpunkt, beide rechnen wir fest damit, dass der Urlaub jetzt gelaufen ist und wir den Rest der Zeit nur mehr ums blanke
Überleben kämpfen werden. Der bittere Gedanke, dass wir nach dem Verlust des Senders unsere Lieben zuhause in größter Sorge im Unklaren über unseren Verbleib lassen müssen, lastet besonders schwer. Und was ist mit dem Paddel, das ich ins Boot gestellt oder daran gelehnt habe? Ohne dieses verflixte Ding würden wir in diesem verdammten Fluss hier sowieso keine Chance haben! Ich klettere über einen Felsrücken, verschwitzt und panisch flussab rennend schlagen mir die Äste des Uferbewuchses ins Gesicht, bleibe kurz stehen um nach vorne zu spähen … und kann es kaum glauben, als ich einige hundert Meter weiter das Boot wider Erwarten wenige Meter vom Ufer entfernt dümpeln sehe. Bleibt es stehen bis ich es erreiche?

Tatsächlich. Der Schlaufenknoten der Bootsleine, die aus sinkendem Material besteht, hat sich in einer Spalte am Grund verklemmt und hält das Boot samt schwerer Beladung. Welch Zufall, welch unfassbares Glück (im Unglück). Doch was ist mit dem Paddel? Der tapfere Jakob hat die
lebensgefährliche Querung flussauf der mörderischen Walze gemeistert, und quert jetzt zurück auf meine Seite. Das Paddel hätte am Ufer gelegen, berichtet er, es war also wohl nur angelehnt. Welch unglaubliche Wendung – wir stehen jetzt vereint und vollständig wieder da als wäre nichts geschehen. Nur die Nerven liegen endgültig blank.

Wie durch ein Wunder ist das Boot nicht ohne Chauffeur nach Russland weitergefahren sondern am Grund hängen geblieben
Wieso sich das Boot überhaupt gelöst hat, darüber kann ich nur Vermutungen anstellen. Sicher ist, dass ich es auf die Böschung gezogen und die Leine recht gut an einem Gebüsch an drei zweifingerdicken Ästen verheftet habe, dieses Bild hat sich eingeprägt. Wahrscheinlich sind die
Packsäcke im Bootsinneren abgerutscht und haben den Bug gehoben. Wohl hat sich durch den pulsierenden Wellenschlag ein starker Zug ergeben, der den Knoten gelöst oder den Busch entwurzelt hat. Dieser brutale Fluss erlaubt keine Fehler!

Wir haben jetzt unsere Selbstsicherheit völlig eingebüßt, und kriechen die meiste Zeit wie geschlagene Hunde am Ufer entlang, unterbrechen die Flussfahrt ständig um abzuleinen. Die immer wieder notwendigen Querungen zu einer flacheren bzw. leichteren Uferseite schaffen wir nur mit
Überwindung. Doch Unsicherheit ist eine schlechte Voraussetzung für Sicherheit. Ein weiteres Mal kentere ich, diesmal Jakob nachfahrend, der im Gegensatz zu mir der unerwarteten Walze unmittelbar vor einem Kolkeinrinn gerade noch ausweichen kann. Immerhin gestaltet sich das
Schwimmen und Abschleppen in dem voluminösen Kolk vergleichsweise stressfrei, wir haben das ja bereits geübt. Auch die fortgeschrittene Tageszeit passt perfekt zum Lager machen.
 

Ableinen zu gefährlicher Stellen

Umgestürzte Bäume machen die Sache langsam und schwierig
Der Lenok vom Kolkeinrinn
Lenok-Flossen im Gegenlicht der letzten Abendsonne
Dieses Mauserl hier hat’s gebracht!
Als die Siebensachen zum Trocknen aufgehängt, Feuerholz und Nerven gesammelt, und das Zelt aufgestellt sind, geht‘s wieder zum Fischen, wir sind schließlich nicht zum Spaß hier. Mein privater Badeplatz von vorhin schaut wirklich ultimativ aus! Falls die durch die Abkühlung des Flusses bedingte Beißphase noch anhält könnten wir endlich absahnen. Wie immer wird als erstes eine Rehhaarmaus über den Kolk treiben gelassen und mit kurzen Rucken angestrippt. Taimen auf Trocken“fliege“ – was gibt’s schöneres? Schon hängt der erste Lenok am Haken, der die poleposition ganz vorne am Kolk eingenommen hat. Der nächste Wurf geht weiter in den tieferen Teil des Einrinns und schon macht‘s plopp – endlich hat ein großer Taimen das warmblütige Angebot in Form eines Kleinsäugers für gut befunden und inhaliert. An der 10er  Einhand-Fliegenrute führt der folgende Drill zur üblichen Mischung aus Aufregung, Verlustangst und Spaß, gemischt mit steigender Neugier über
die Größe des Räubers, der sich so vehement gegen den Zug der Fliegenschnur stemmt. Es ist ein wirklich schönes, makelloses Exemplar, gut genährt und 1,18 m lang. Und obendrauf an einer Stelle gefangen, an der ich nur zwei Stunden zuvor in Panik geschwommen bin. Ich denke, es kann hier von einem wohlverdienten Fang und von ausgleichender Gerechtigkeit in Reinform gesprochen werden. Auch vor dem Hintergrund, welche Mühsal es noch bedeuten wird, von hier wieder in die Zivilisation zurück zu gelangen. 
 

Davon mehr im zweiten Teil!
 

Pure Freude

Teil 2 dieses spannenden Reiseabenteuers: "Über die Berge ins Äschenparadies" findest du hier:



Ein Reisebericht in zwei Teilen von Clemens Ratschan für www.fliegenfischer-forum.de - Dezember 2023/Februar 2024. Das unerlaubte Kopieren und Verbreiten von Text- und Bildmaterial aus diesem Bericht ist verboten.
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