Von Jakutsk nach Ochotsk
Eine Fischereiexpedition auf den Spuren früher Entdecker
Ein Reisebericht von Clemens Ratschan | Teil 1/3: Einleitung und Anreise

Pferdetrek ins Suntar-Khayata Gebirge

Die frühen Entdecker der riesigen nördlichen und östlichen Gebiete Russlands mussten unvorstellbare Strapazen auf sich nehmen, um Proviant, Werkzeuge und Baumaterial an die Ausgangspunkte ihrer Expeditionen zu bringen. Wegen des sumpfigen Geländes dienten dazu vor allem Flüsse als Verkehrswege, die über große Strecken auch stromauf verwendet wurden. Die großen sibirischen Flüsse verlaufen zwar in Nord-Süd-Richtung, dennoch konnten sie mit kürzeren Portagen über Land zu Routen ans östliche Ende des riesigen Zarenreichs verbunden werden.

Vitus Bering brach im Zuge der „Großen Nordischen Expedition“ (1733-1743) mit dem Hauptziel nach Osten auf, einen Seeweg nach Nordamerika zu suchen. Die schwierige Anreise (siehe Kasten) führte auf dem Landweg von Jakutsk nach Ochotsk, um dort zwei Schiffe zusammenbauen. Bering hatte bereits in den Jahren 1725-1730 die „Erste Kamtschatka Expedition“ auf dem Landweg nach Ochotsk und von dort über Kamtschatka um die Chukotka Halbinsel geführt. Beide Expeditionen brachten bedeutende wissenschaftliche Ergebnisse und erweiterten den Horizont der Naturwissenschaft beträchtlich.


„Es war Ende Juni 1735, als sich die Mannschaft wieder auf den Weg zum Pazifik machte. Von Jakutsk nach Ochotsk am Pazifik führte die Route die Lena hinab, den Aldan Fluss hinauf, die Maja hinauf, die Judoma hinauf, über das Gebirge und schließlich den Urak hinab bis zum Meer. Tausend sibirische Verbannte wurden gezwungen, diese Boote zu geleiten. Kein einziges Dach war vorbereitet worden, um die Truppe in den Bergen zu behausen. Männer und Pferde wurden von Wölfen in Stücke gerissen. Oft, manchmal tagelang, bestand die Verpflegung nur aus Pferdekadavern, Wurzeln, Mehl und Reis. Zwischen den Flüssen mussten Winterhütten errichtet werden, weil die schiffbare Zeit kurz war. Im Mai brach das Eis der Flüsse in Frühjahrshochwässern. Dann führte der Weg gegen eine brodelnde Strömung. Dreißig Mann waren nicht in der Lage, ein Boot die Judoma hinauf zu ziehen. Sie standen bis zum Bauch in Eiswasser, um die Kähne über die Stromschnellen zu hieven. Wunden brachen auf den Füßen der Pferde und Männer auf. Es dauerte drei Jahre, um all die Vorräte und Schiffstakelage von der Lena an den Pazifik zu bringen.“
Aus: Laut, A. (1905): Vikings of the Pacific. The Adventures of the Explorers who came from the West, Eastward. The Macmillan Company, New York. 349 S.

Hätten wir geahnt, dass uns zivilisationsverweichlichte Abenteurer fast 300 Jahre später nicht ganz unähnliche Strapazen erwarten würden, so wären wir wohl nie zu dieser Expedition aufgebrochen. Doch zu groß ist die Verlockung, die von einer ähnlichen geografischen Besonderheit ausgeht, die auch die historischen Pioniere in diese Gegend geführt hat: Die kontinentale Wasserscheide zwischen dem Nordpolarmeer (Lena-Einzugsgebiet) und dem Ochotskischen Meer (mit dem pazifischen Ozean verbunden) liegt hier unweit zweier benachbarter Flüsse. Dadurch können Wasserwege dies- und jenseits der Wasserscheide mit einer recht kurzen Portage auf dem Landweg zu einer Route an das östliche Ende der riesigen Landmasse Sibiriens verbunden werden.

Karte mit den erwähnten geografischen Bezeichnungen. Rechts oben Lage innerhalb der Russischen Förderation. Schwarze Linie: Marschroute (gesamt ca. 270 km). Punktierte Linie: Befahrene Flüsse (gesamt ca. 500 km). X: Historisches „Kreuz der Judoma“.

In fischereilicher Hinsicht ergibt sich daraus die reizvolle Möglichkeit, auf der einen Seite der Wasserscheide auf eine typisch sibirische Fischartengesellschaft zu treffen (Taimen, Lenok, Hecht, Flussbarsch etc.), auf der anderen Seite hingegen auf einen durch anadrome Arten geprägten Bestand aus pazifischen Lachs- und Saiblingsarten. Dies in einer fast menschenleeren, völlig unberührten Landschaft. Kaum je verirren sich Touristen in das entlegene Gebiet des bis knapp 3.000 m hohe Suntar-Khayata Gebirges. 

Doch zuvor gilt es, eine Anreise zu bewältigen, die mit großen Schwierigkeiten verbunden sein wird. Mein Reisepartner Jakob Schabasser – genialer Outdoor-Allrounder, der gerade sein Studium beendet hat – und ich brechen dazu Mitte August Richtung Osten auf.

Der Sommer 2013 war nicht nur in Europa durch mehr als hundertjährliche Hochwässer gekennzeichnet, auch im Fernen Osten kam es zu Überflutungen in einem Ausmaß, wie es die Einheimischen noch nie zuvor gesehen hatten. Wochenlange, schwere Regenfälle führten vom Amur im Süden bis nach Jakutien im Norden zu Jahrhundert-Hochwässern.

Dadurch wurden zwei Brücken zerstört, auf die wir bei der Anreise angewiesen sind. Nachdem wir unsere Ausrüstung bis Jakutsk (Hauptstadt der autonomen russischen Republik Sacha, auch Jakutien genannt) gebracht haben, heißt es daher drei Tage warten, bis die Hochwässer weiter abgeflossen sind und unser Geländewagen aufbrechen kann. Jakutien gehört mit über 3 Mio. km² und einer Einwohnerzahl von nur etwa 950.000 zu einer der größten und am dünnsten besiedelten Regionen der Erde (zum Vergleich die Europäische Union: 4,3 Mio. km²; 505 Millionen Einwohner).

Bereits mit viel Verspätung geht es also mit Fähren über die kilometerbreiten Ströme Lena und Aldan und weiter auf einer Schottertrasse insgesamt 800 Kilometer Richtung Osten. Bei der so genannten „Straße der Knochen“ handelt es sich um eine der ganz wenigen befestigten Verkehrswege Jakutiens. Stalin ließ diese Verbindung zwischen Jakutsk und Magadan unter so großen Verlusten von Gulag-Häftlingen bauen, dass man sagt, sie sei auf deren Gebeinen errichtet worden. 


Mein Reisepartner Jakob vor UAZ-Allrad Frühmorgendliches Warten auf die Aldan-Fähre

Wilde Straßenböschung und wunderschöner Fluss

Fluss-Überquerung im Schlepptau einer Schubraupe

Im Hochland wird unser UAZ-Geländewagen wiederholt mit Baufahrzeugen durch die Flüsse gezogen, weil die Brücken noch nicht wiederhergestellt sind. Schließlich erreichen wir nach 27 Stunden Fahrt den Suntar-Fluss im Hochland des Gebiets von Oimjakon, wo die nächste Etappe auf uns wartet – mit Lastpferden ins Gebirge.
 
 
 

Weit hinter die Quellen des Suntar-Flusses müssen wir marschieren – weit hinter den schneebedeckten Bergen (s. unten).


Groß ist die Erleichterung, als wir nach einigem Suchen den Pferdeführer Semjon und seinen Neffen Danil am vereinbarten Treffpunkt treffen. Ich wollte schon zwei Jahre vorher diese Tour durchführen, damals scheiterte ich, weil Semjon nicht aufzufinden war – er hatte seine Pferde verloren. Die jakutischen Pferde laufen in der Regel frei in der Taiga herum, werden eher als Fleischtiere gehalten und nur bei Gelegenheit auch als Last- oder Reittiere verwendet. Semjon und Danil sind Angehörige des Volkstammes der Ewenen, der nur mehr etwa 12.000 Mitglieder zählt und dessen Sprache vom Aussterben bedroht ist. Leider haben sie nicht wie vereinbart für jeden von uns ein Reitpferd mit, sondern nur ein Reitpferd und fünf Packpferde (junge Hengste), eines davon krank. Das bedeutet, dass wir die gut 150 Kilometer Strecke durch das Tal des Suntar Flusses bis in die Berge nicht reitend, sondern neben den beladenen Pferden marschierend zurücklegen müssen. 

Tagesetappen von 20 bis 40 Kilometer mit leichtem Gepäck wären zuhause kein großes Problem. Hier entwickeln sie sich die nächsten Tage aber zu einem wahren Martyrium: Ein Drittel der Strecke besteht aus Sumpf, wo wir bis zum Knöchel, teils bis zu den Knien einsinken. Der übrige Teil besteht aus Wald mit tiefem, moosigem Boden, Gestrüpp, Geröll, Flussquerungen und nur kurzen Abschnitten mit festem Boden.


Beladung der wilden Pferde

Wir sind jeden Tag vom Morgen bis zum Einbruch der Finsternis unterwegs. Infolge des schlechten Untergrunds entzünden sich meine Seitenbänder und eine Achillessehne, sodass die langen Märsche nur mit Hilfe von Schmerztabletten zu bewältigen sind. Jakob wird ebenfalls durch Schmerzen an den Bändern und an der Ferse geplagt, unser Leukoplast-Vorrat neigt sich rasch einem Ende zu (unser Motto lautete: „Never change a sticking Leukoplast“). Schließlich bewältigt unser Pferdetrek die 140 Kilometer lange Strecke bis zum Talschluss in fünf Tagen (Tagesdurchschnitt 28 Kilometer).

Auf dem langen Weg ins Suntar-Tal

Jakobs arg geschundene Füße

Die Längen unserer Etappen dürften also in etwa jenen entsprochen haben, die Bering selbst im Jahr 1726 zurücklegte. Er musste sich nicht wie die mit schwerer Last beladene Mannschaft die Flüsse stromauf und über das „Yudomskaya Krest“ (Kreuz der Judoma) plagen, sondern reiste mit leichtem Gepäck zu Pferd direkt von Jakutsk nach Ochotsk. „Am Landweg mit zweihundert Packpferden überwand er die 685 Meilen in 45 Tagen und erreichte sein Ziel [Ochotsk] am ersten Oktober 1726 (Denton, 1924).“ Das entspricht einem Tagesschnitt von 24,5 Kilometern. Freilich begannen für den frühen Entdecker nach der Etappe zu Pferd erst die Schritte in die Ungewissheit und enorme Strapazen – wie sich zeigen sollte für uns ebenso.
Einmal treffen wir auf Menschen:  – ein Ewenen-Lager mit Rentieren

Die immer eindrucksvollere Fluss- und Gebirgslandschaft entschädigt uns für die Tortur. Im Sommer kommen angeblich bis in die Oberläufe Äschen vor – leider bleibt nach den tagtäglichen Marschetappen von früh bis spät weder Zeit noch Energie für Fischereiversuche. Nur einmal, als wir die Wartepause auf den Pferdetrek mit Fischen überbrücken, gelingt in einem See der Fang von zwei Hechten.




Pferdetrek ans Ende des Tals des Suntar-Flusses

Als wir am fünften Marschtag die Waldgrenze am Talschluss erreichen, eröffnen uns die beiden Ewenen die nächste Hiobsbotschaft: Wir können die Pferde nicht weiter als Lasttiere benutzen, weil es mangels an Bäumen keine Möglichkeit gibt, die wilden Gäule zum Be- und Entladen anzubinden. Tatsächlich war das allmorgendliche Bepacken der um sich schlagenden Tiere eine stundenlange Prozedur, die unseren Begleitern nur mit sehr viel Verständnis, Kraft und Risiko gelang, indem sie die Pferde fesselten und eng an dicke Bäume zurrten. 

Daher werden Proviant für weitere drei Wochen, zwei Schlauchboote und die übrige Ausrüstung auf 4 Tragesäcke aufgeteilt, die Jakob und ich nun zu Fuß über den Pass schleppen müssen. Der Weg über den Pass sei nicht weit, der Fluss nicht fern, so verkünden unsere zwei Pferdeführer und treten den Rückweg an. 

Unsere Fortbewegung wird von nun an aus dem Schleppen von ca. 35 kg schweren Tragesäcken bestehen. Bereits nach ein bis zwei Stunden tritt Erschöpfung ein, der Rückweg zur zweiten Hälfte des Gepäcks wird zur Erholung genutzt. Völlige Erschöpfung stellt sich ein, nachdem auch diese ans Etappenziel geschleppt wurde. Mit dieser Marschstrategie („Expeditionsstil“) erreichen wir über die zwei Hinwege und einen Rückweg gerechnet eine mittlere Geschwindigkeit von einem Kilometer pro Stunde und eine Reichweite von ca. 8 km pro Tag. 







Aufstieg durchs Tal Charon [ewenisch: rot] zum Pass auf ca. 1920 m, Überschreitung aus dem Indigirka- ins Lena-Einzugsgebiet

Am zweiten Tag überschreiten wir den Pass auf 1.920 Metern Höhe und verlassen das Einzugsgebiet der Indigirka. Vor uns eröffnet sich das Tal des Nitkan-Flusses, der den Oberlauf der Judoma bildet, die in die Lena entwässert. Wir erblicken traumhaft rot verfärbte Tundra, felsige Schluchten und Geröll, nur leider führt der Wildbach noch viel zu wenig Wasser für eine Befahrung per Boot. Der geschundene Körper lechzt nach einem Ruhetag, doch dafür ist angesichts der begrenzten Zeit- und Proviantreserven kein Spielraum mehr. Also Tag für Tag dasselbe Spiel – Schufterei von früh bis spät, um schließlich auf eine recht überschaubare Tagesetappe zurück zu blicken. Die ersten drei Tage verbringen wir in der baumlosen Gebirgstundra ohne Feuerholz. Dies bedeutet, angesichts der starken Nachtfröste jeden Morgen in zuerst steinhart gefrorene, dann nasse Schuhe schlüpfen zu müssen. 

Als der Nitkan sogar am fünften Tag nach der Trennung von den Pferden und Marsch im „Expeditionsstil“ noch immer abschnittsweise im breiten Geröllbett versickert, sind wir der Verzweiflung und der völligen Erschöpfung nahe. Alle nicht unbedingt notwendigen Gegenstände werden zurück gelassen. Die Abschätzung der bevorstehenden Bootsetappen ergibt pro Tag jetzt schon 50 Kilometer Paddelstrecke. Im Vergleich zur Aussicht, abzubrechen und die gesamte Strecke bis zur „Straße der Knochen“ wieder retour zu marschieren, erscheint uns das noch immer als die bessere Option. 

Der laut Karte vorerst letzte größere Zubringer bietet unsere letzte Chance – danach würde 20 Kilometer oder drei Tagesetappen weit kein Zufluss mehr folgen. Damit wäre unsere Expedition definitv gescheitert und die Reise würde sich endgültig zu einem reinen Kampf ums Überleben entwickeln.

Wie es uns im trockenen Tal des Nitkan weiter ergangen ist, erfahrt ihr im nächsten Teil!


Gletscher bilden die Quellen des Nitkan bzw. der Judoma

Ochotskische Schneeschafe

Oberlauf des Nitkan-Flusses







Der erste „Baum“ wird hoch erfreut begrüßt – er verspricht Lagerfeuer und Wärme






Herbstliche Farben im trockenen Nitkan-Tal


Hier finden Sie Teil 2 und 3 dieses packenden Reise-Abenteuers:

Von Jakutsk nach Ochotsk - Teil 2

(Teil 3 kommt im Oktober 2014)





Ein Reisebericht in drei Teilen von Clemens Ratschan für www.fliegenfischer-forum.de - August - Oktober 2014.
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