Vom Baikalsee in den „Wilden Westen“ 
Teil 2: Auf der „sibirischen Enns“ vom Gebirge in die Steppe (1) 
Ein Reisebericht von Clemens Ratschan
Österreich und Sibirien
In Bezug auf Bootstouren war mein Heimatland Österreich ursprünglich ein Paradies. Stellt man sich die Schönheit der Flüsse samt umgebender Landschaft und die historisch beschriebenen Fischbestände der Fließgewässern vor, so würden sich lange Bootsfahrten mit der Angelrute an Bord förmlich aufdrängen. Beispielsweise über das Salzachtal nach Bischofshofen, über die Wasserscheide nach Radstatt an der Enns (Anm.: Grenzfluss zwischen Ober- und Niederösterreich, mündet stromab von Linz in die Donau), und dann über das steirische Ennstal mit seinen riesigen Mäandern bis Admont; die wildesten Stromschnellen des Gesäuseeingangs umtragen, vor beeindruckendem Bergpanorama weiter bis zur Salza und über die tiefen Schluchten der mittleren Enns bis zur Mündung der wunderschönen Steyr; weiter über die Aulandschaft der unteren Enns bis an die Donau; bei entsprechend Zeit weiter über das Machland und die Durchbruchsstrecken des Strudengaues und der Wachau bis hinunter nach Wien. 

Ein unbezahlbares Erlebnis, doch heute ist zu befürchten, dass derartige Unternehmungen mit Ausnahme der Fließstrecken im Gesäuse und in der Wachau als Frust-Erlebnis enden: Durchstochen die Mäander, monoton reguliert das obere Ennstal; fast die gesamte mittlere und untere Enns und die Donau eine Staukette; statt Schotterbänken mühsam zu überwindende Rückstaubereiche von 15 Kraftwerken allein an der Enns; ein danieder liegender Fischbestand auf der ganzen Strecke. 

Umso interessanter ist es, Orte zu erkunden, wo sich eine derartige Zeitreise erübrigt. Wo man auch heute nicht nur intakte Flusslandschaften genießen kann, sondern daran erinnert wird, was in der Heimat als Tribut an ein einseitiges Fortschrittsideal verloren gegangen ist. Und wo beim Schutz und der Restauration der Gewässer anzusetzen ist. Der Süden Sibiriens liegt auf ähnlicher geografischer Breite und Seehöhe wie Mitteleuropa, unterscheidet sich wesentlich aber hinsichtlich des kontinentalen Klimas, einer entsprechenden Hydrologie und diesbezüglich abweichende Habitatbedingungen für Flora und Fauna. Trotzdem findet man hier Gewässersysteme, die einen ganz ähnlichen Wechsel charakteristischer Flussabschnitte wie beispielsweise an der heimischen Enns bieten. 

In dieser Hinsicht stellen Oberläufe des Jenissei – in weiterer Folge des größten Stroms Sibiriens – ein spannendes Ziel dar. Hier, im Grenzland zwischen den Autonomen Russischen Republiken Buryatien und Tuwa sowie der Nordmongolei findet man eine ethnisch, landschaftlich und naturgeschichtlich enorm interessante Wildnis. Im schwer zugänglichen Ostsayangebirge leben die letzten Familien kleiner Volksstämme wie Tofolaren, Sojoten oder Zsaatan, die sammeln, jagen und im Gebirge auch auf dieser gemäßigten Breite Rentiere züchten. 

Das Gebiet ist auf dem Landweg am „leichtesten“ von der buryatischen Seite im Westen des Baikalsees erreichbar. Mein Plan ist die Überquerung des Gebirges zu Pferd bis zu einem Bergsee auf der unzugänglichen tuwinischen Seite. Von dort fließt der Fluss Belin Gol parallel zur mongolischen Staatsgrenze bis zum Oberlauf des Kleinen Jenissei, der mit dem Boot weiter bis in die tuwinische Steppe befahrbar ist (siehe Karte im ersten Teil). Möchte man die Analogie zur Enns noch einmal bemühen, so würde die Tour einer Überquerung der Niederen Tauern zu Pferd von Tamsweg im Lungau aus entsprechen, um die Bootstour nach dem Riesachsee und den Riesachfällen zu beginnen und weiter den Untertalbach und die Enns bis hinunter zur Donau zu paddeln. 

Besonders reizvoll – gleichermaßen bei der virtuellen Enns-Befahrung als auch bei der realen Tour in Südsibirien – stellt sich der stete Wandel der Flusslandschaft dar. Der Flusstyp wechselt in Abhängigkeit von Gefälle, Abfluss, Geschiebe und Talform von gestreckten über pendelnde und verzeigte (furkierende) Gerinne bis hin zum Mäanderfluss. Der dargestellte Längenschnitt zeigt die Erstreckung unserer Bootstour in Höhe und Distanz. Die Steigung der Linie entspricht dabei dem Flussgefälle. In Summe erstreckt sich die Route auf fast 450 Flusskilometer über 1000 Höhenmeter. Bereits das mittlere Gefälle von mehr als zwei Promille (zwei Meter pro Kilometer Fluss) über die gesamte Strecke beeindruckt, es wird jedoch sehr ungleichmäßig abgebaut: Es erwarten uns auf 300 Kilometern und damit einen Großteil der Strecke verteilt immer wieder Stromschnellen des dritten und vierten Schwierigkeitsgrades. 

Längenschnitt des befahrenen Flusssystems mit Gefälle (schwarze Linien) und Zuordnung flussmorphologischer Typen (farbige Balken). Zum Vergleich sind Untertalbach und Enns dargestellt.

Das zu befahrende Flusssystem bietet also vielfältige Herausforderungen, auf die sich Harald Eidinger und ich durch entsprechendes Training vorbereitet haben. Auf den Wildwasserstrecken der Salza, Enns und Koppentraun haben wir in steigender Schwierigkeit unseren „Grabner Outside“ Schlauchkanadier ausführlich getestet und dabei Erfahrung und Selbstvertrauen in schwerem Wildwasser gesammelt. Dieses geniale Boot bleibt in verblockten Wildbächen wie auch in mächtigem Wuchtwasser trotz Beladung mit Proviant und Ausrüstung für 3 Wochen einwandfrei manövrierbar. Es stellt daher das optimale Gerät für derlei Expeditionen dar. 

Auf dem Wildbach Belin Bashen
Nach einigen kurzen III - IVer Stromschnellen, die eine Reihe kleinerer Seen im Anschluss an den 4 Kilometer langen Belin Chol (siehe Teil 1) verbinden, heißt es zuerst einmal schleppen. Beim letzten Ausrinn braust der Wildbach über eine steile, ein paar hundert Meter lange Kaskade im fünften Schwierigkeitsgrad, deren Befahrung nur mit einem schnellen Kajak und auch damit nur ratsam scheint, wenn das nächste Krankenhaus in Reichweite liegt. Hier in der Wildnis ist Umtragen auf dem Landweg sicher die bessere Wahl. 

Wildwasser der Kategorie V... 

... wird umtragen

Wildwasser der Kategorie IV...

... kann nach gründlicher Besichtigung gefahren werden

Im Anschluss stellt die typische Gestalt von Seeausrinnen die Strapazfähigkeit unserer Nerven und Bootshaut auf eine harte Probe. Mangels an Geschiebe besteht das Bachbett aus groben Steinen und Blöcken. Mit rasanter Geschwindigkeit werden wir durch das trogförmig enge, steile und stark verblockte Gerinne gerissen. Hier ist vorausschauendes Fahren überlebensnotwendig, aber mit sehr viel Zeitaufwand zum Kehrwasserfahren, Aussteigen und Besichtigen vor der Befahrung verbunden. Doch hier stellt es sich ein, das Gefühl, wieso man diese Strapazen auf sich zu nehmen bereit ist: Auf sich selbst gestellt, total im Hier und Jetzt verhaftet, für sein Wohl zu 100% selbst verantwortlich zu sein. Die hoch gesteckte, aber machbare Herausforderung erfolgreich zu meistern. Direkter, intensiver zu sehen, spüren und handeln scheint kaum vorstellbar. 

Video: Wildwasser im Belin Bashen (Klick)

Erstaunlich hoch stellt sich der Fischbestand schon hier im Oberlauf dar – wohl ebenfalls ein Resultat des Einflusses der Seen stromauf. Wie auch weiter stromab beginnt pünktlich ab zwei Uhr Nachmittag ein massiver Eintagsfliegen-Schlupf, auf den die zahlreichen Gelbschwanz-Äschen mit ausgeprägten Steigorgien reagieren. Die Aktivität klingt am späten Nachmittag ab, sodass das Gewässer bis zum nächsten Nachmittag wieder wie leergefegt wirkt. Zarte Trockenfliegen aus Entenbürzelfedern stellen sich als die mit Abstand fängigsten Köder heraus – nicht verwunderlich, imitieren sie die Eintagsfliegen-Duns doch trefflich. 

Wunderbare Äschenfischerei...


Belin Gol - Mäander und Katarakte
Nachdem sich der Belin Bashen mit dem eigentlichen Belin Gol – einem kleineren, stark Geschiebe führenden Bach – vereinigt und sich das Gefälle mäßigt, entwickelt sich ein gut befahrbarer, pendelnd-verzweigter Flusstyp. Doch auch diese Strecke birgt ihre Tücken. Nach wenigen Kilometern stehen wir vor einer großen Totholzverklausung (Log Jam), finden aber eine trocken liegende, schottrige „Flutmulde“, die Hochwasserabflüsse abführt. Die Verklausung lässt sich hier gut umtragen, bis wir wieder auf einen befahrbaren Nebenarm treffen. Durch die „Filterwirkung“ des Logjams ist die Strecke weiter stromab frei von Verklausungen, bis sich der Fluss erneut wandelt. Er beginnt über den sumpfigen Boden des gesamten Trogtals zu mäandrieren und fließt nur ganz träge durch die alpine Landschaft. Aufgrund des geringen Gefälles ist die Krümmung so stark, dass die Schlingen teils viele hundert Meter entgegen der Talrichtung scheinbar stromauf fließen. Auch Mäandersprünge bzw. Altarme treten auf. Eine derartige Flussform assoziiert man gemeinhin mit Niederungsflüssen und nicht mit sommerkalten Oberläufen, aber auch in Mitteleuropa waren mäandrierende, größere Gewässer in der Salmonidenregion ursprünglich nicht selten. So können wir uns hier am Oberlauf des Belin Gol sehr anschaulich vergegenwärtigen, wie das Ennstal (zwischen Steinach und Admont) oder auch die Salzach im Oberpinzgau (z.B. bei Mittersill) vor 2000 Jahren ausgesehen haben könnten. 

Der verzeigte Abschnitt ist voll mit Äschen


Logjam – Schleppen ist angesagt!

Schon seit unserer Ankunft am Baikalsee sind wir mit einem Wettergeschehen konfrontiert, das man bestenfalls als „abwechslungsreich“ bezeichnen könnte. Als sich der fast alltägliche Regen in Schneeregen umwandelt und wir morgens am Belin Gol von einer 15 cm dicken Neuschneedecke überrascht werden, hält sich Begeisterung in Grenzen. 

Ein weiterer Reservetag muss zum Auswettern verbraucht werden, weil Boot fahren bei stürmendem Schneefall und 4 Grad Wassertemperatur nicht nur unangenehm, sondern wirklich gesundheitsgefährdend wäre.


Wintereinbruch

Mäanderstrecke des Belin Gol



Nach Einsetzen des Tauwetters kann uns in der traumhaften Herbstlandschaft nichts mehr vom draußen schlafen, ...

... Boot fahren und Äschen fischen abhalten

Video: Toller Äschenbiss auf Trockenfliege (Klick)

An der Mündung eines kleinen Zubringers stehen die Äschen Schlange...




Video: Äschenfischerei vom Feinsten (Klick)

Neugierig, welche Fischarten in diesem Abschnitt vorkommen, keschere ich Jungfische, die sich in kleinen Holzstrukuren und überhängender Vegetation am Gleitufer tummeln. Es handelt sich um Jungäschen (von knapp 4 cm Länge) und auch einen kleinen Sibirischen Huchen (russ. Taimen, Hucho taimen). Dieser misst nur 3,4 cm, ist damit sogar kleiner als seine potentielle Beute und dürfte sich im ersten Lebensjahr wohl noch durchwegs von Wirbellosen ernährt haben. Führt man sich vor Auge, dass Huchen in sommerwarmen mitteleuropäischen Gewässern im Herbst des ersten Lebensjahres bis über 20 cm Länge (Äschen bis über 15 cm) erreichen können, so zeigt sich drastisch, dass der Belin Gol einen extremen Lebensraum darstellt. Taimen wachsen generell meist schleppender als europäische Huchen, aber auch die am langsamsten wachsenden Populationen aus Oberläufen sibirischer Flüsse in einer umfassenden Zusammenschau von Holcik et al. (1988) erreichen im ersten Jahr schon mindestens 9 cm. Das ungewöhnlich geringe Wachstum im Belin Gol wäre schlüssig so zu interpretieren, dass dieser Gebirgsfluss aufgrund der überaus kalten Temperaturen und der kurzen Wachstumsphasen an der Grenze der Besiedelbarkeit liegt.

Dies könnte auch für den geringen Bestand adulter Taimen verantwortlich sein. Wir sehen in der Mäanderstrecke zwar einige, teils weit über einen Meter lange Exemplare, zu fangen sind sie hier aber nicht. Meist wird schon die Annäherung, spätestens aber das Aufplatschen des Köders an der spiegelglatten Oberfläche des kristallklaren Wassers mit Flucht oder desinteressiertem „in die Tiefe Gleiten“ quittiert. Weiter stromab sind Taimen trotz hoher Anstrengungen weder zu sehen noch zu fangen, wohl ist der Fluss hier zu rasch fließend und turbulent. Auch der Lenok (Sibirische Forelle, Brachymystax lenok) kommt anscheinend noch nicht vor. 


Taimen-Brütling aus dem Belin Gol, 3,4 cm (Sept.!)

Äschen-Brütling aus dem Kyzyl Khem, 5,1cm

Drei in der Mäanderstrecke gesichtete Taimen; der größte misst geschätzte 120 cm!

Der Grund für das geringe Gefälle der Mäanderstrecke offenbart sich zwei Tagesetappen weiter. Hier bricht der Fluss durch Basalt, also vulkanisches Gestein, welches das Tal abgeriegelt hat, wodurch eine abrupte Änderung des Gefälles entstand. Wir treffen hier auf eine lange Wildwasserstrecke mit Stromschnellen vierten Grades, die wegen der spitzen, hexagonalen Verwitterung des Basalts an den steilen, teils unterspülten Ufern mit großem Respekt von uns besichtigt und befahren werden.

Blick über eine Durchbruchsstrecke des Belin Gol

Scouten einer IVer Stromschnelle

In diesem Abschnitt gelingt der Fang der beiden ersten und einzigen Lenoks im Belin Gol. Bei einer Länge von 64 und 65 cm handelt es sich dabei schon um kapitale Tiere. Seltsam, kleinere Adulte oder Junglenoks können wir in diesem Fluss (im Gegensatz zum anschließenden Fluss Kyzyl Khem) nirgends fangen. Diese Art führt – ähnlich wie die Bachforelle – stromauf gerichtete Laichwanderungen durch. Im Anschluss daran bleiben manche Tiere noch zum Fressen in den Oberläufen. Vielleicht kommt dadurch der sonderbare Populationsaufbau im Belin Gol zu Stande. 

Harald fängt in diesem Traum-Pool den größten Lenok: 65 cm!


Spitznasen-Lenok mit 64 cm


Wie die spannende Reise weitergeht, erfahren Sie im dritten Teil!

Fortsetzung folgt


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