Vom Baikalsee
in den „Wilden Westen“
Teil 3: Auf der „sibirischen Enns“ vom Gebirge in die Steppe (2) Ein Reisebericht von Clemens Ratschan |
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Auf großem Fluss
Nach zehn Tagen auf dem Belin Gol erreichen wir die Mündung in den Kyzyl Khem [Kisil Chem]. Dieser Oberlauf des Kleinen Jenissei entwässert ein riesiges Einzugsgebiet im nordmongolischen Darhat Becken und führt bereits ohne Belin Gol einen mittleren jährlichen Abfluss von 148 m3 s-1. Die Beschreibung von Radin (1997) zeigt, dass Flusslänge und Einzugsgebiet des Kleinen Jenissei größer sind als des Großen Jenissei und das erstere Flusssystem als eigentlicher Jenissei-Oberlauf gelten müsste. Die Grenze zur Mongolei liegt nur 5 Kilometer entfernt, so dass wir diesen mächtigen Fluss auf russischem Territorium fast zur Gänze erkunden können. Die erste erfolgreiche Befahrung der gesamten Strecke aus der Mongolei dürfte erst im Jahr 1980 durch ein russisches Team gelungen sein, was aufgrund der Tatsache nicht weiter verwundert, dass dort extrem schwierige Stromschnellen im fünften Grad zu meistern sind. Ich durchquere einige Kilometer des schwer durchdringlichen Auwalds, um einen umliegenden Hügel zu besteigen. Dort bietet sich ein großartiger Überblick über die Aulandschaft mit seinen großen Schotterflächen und verästelten Nebenarmen. Es macht großen Spaß, mit dem Boot unterwegs zu sein und zu versuchen, in dem vielfältigen Flusssystem Fischeinstände auszumachen und zu befischen. Neben der häufigen Äsche ist hier auch der Lenok in allen Altersstadien anzutreffen, dazu kommen Elritze und Aalrutte vor. |
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Das „sibirische Gesäuse“
Bereits nach wenigen Kilometern verengt sich das Tal erneut und es beginnt eine über 150 km lange Schlucht. Aufgrund des engen Abflussquerschnitts kommt es hier bei Hochwasser zu Aufspiegelungen um bis zu 10 Meter. Hoch über dem Wasserspiegel angetriebene, quasi „in der Luft“ hängende Baumstämme zeigen drastisch, welch apokalyptische Verhältnisse dann herrschen müssen. Aber auch jetzt bei Mittelwasser entwickelt sich eine enorme Wasserwucht, zwischen den haushohen Wellenbergen werden wir im kleinen „Outside“ zum Spielball der Gewalten. Vor der Befahrung besichtigen und überlegen wir gewissenhaft, wie Stromschnellen einzufahren und zu passieren sind. Gefahren gehen nicht nur von den Wasserwalzen und flussmittig verstreuten Felsblöcken aus. In Biegungen auf den Wellenbergen schaukelnd, mit den Ruderblättern ins Leere schlagend, wird man mit unbändiger Kraft in den Außenbogen gezogen. Unbedingt gilt es zu vermeiden, dort Bekanntschaft mit unterspülten Felsen zu machen. In dieser auch per Helikopter nicht erreichbaren Schlucht eine Verletzung zu riskieren oder das Boot samt Ausrüstung zu verlieren – die Konsequenzen malt man sich nicht gerne aus. Doch zum Glück gelingt nach dem Herzklopfen beim Erkunden jeder schwierigen Stelle eine Befahrung ohne Kentern. |
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Nach der eindrucksvollen Durchquerung der meist eng durch dunkle Basaltfelsen eingefassten Schlucht, deren mit herbstlich goldgelb verfärbten Lärchen und Pappeln bestandene Hänge eine wundervolle Farbkulisse bilden, erreichen wir die Mündung des großen Zubringers Khaa Khem [Ka Chem]. Dieser Wildfluss ist unter russischen Wildwasserfahrern populär, weil er im Oberlauf mit entsprechenden Fahrzeugen auf dem Landweg erreicht werden kann. Spätestens ab hier wird der Kyzyl Khem auch Kleiner Jenissei (russ. Malyi Enisei) genannt, und die Schlucht weitet sich teils stärker, so das Verzweigungen und größere Schotterflächen entstehen. Dazwischen ist auch dieser große Fluss (Breite ca. 150 - 200 m) noch durch mächtige Stromschnellen geprägt, die es in Mitteleuropa in dieser Dimension kaum gibt. |
Video-Link: Mit dem Boot durch die gewaltige Stromschnelle „Baibalski Paroga“ (Klick) |
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Der Standort nach der Khaa Khem-Mündung
würde investitionskräftigen Energieversorgern wie ein feuchter
Traum erscheinen. Mehr als 300 Kubikmeter pro Sekunde Mittelwasser bei
245 m Fallhöhe, so die energiewirtschaftlich ohne einen einzigen Kilometer
Seitendamm erschließbaren Kennwerte bei Einstau der Schluchtstrecke.
Mit Ausnahme von Herrgott und ein paar Maralhirschen keine betroffene Partei.
Aufgestaut, könnten von hier aus weit mehr als alle vielleicht 100.000
tuwinischen Haushalte mit sauberem, CO2 neutralem Ökostrom aus Wasserkraft
versorgt werden. Wer sich gegen ein derart sinnvolles „Öko-Projekt“
stellen würde, müsste schon ein notorischer Verhinderer oder
gar ein Atomstrom-Fanatiker sein! Oder etwa nicht? Wieso sollte man in
anderen Gebieten der Erde andere Maßstäbe anlegen als in der
Heimat?
Erste Menschen
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Woran dies liegt, ist unschwer zu
erkennen. Auf jeder zweiten Schotterbank stehen Tuwnier beim Fischen, wir
können deren mongolische Gesichtszüge gut erkennen. Die autonome
Republik Tuwa (ca. 305.000 Einwohner auf deutlich mehr als der doppelten
Fläche Bayerns) gehört zu den ärmsten Gebieten der Russischen
Föderation, die offizielle Angabe von etwa 20% Arbeitslosigkeit unterschätzt
das wahre Ausmaß wohl deutlich. Jung und alt, Männer und Frauen,
ob früh morgens oder spät am Abend, am Ufer oder auf Inseln –
überall und ständig beobachten wir Menschen, die verschiedenste
Methoden anwenden, um damit auch noch so kleine Fische zu erbeuten.
Als kuriose Angeltechnik fällt uns jene mit einem kleinen Holzkatamaran auf, der als Scherbrett funktioniert. Dieser wird von der Strömung an einer seitlich befestigten, etwa 20 bis 30 m langen Leine vom Ufer aus Richtung Flussmitte gedrückt. An dieser Hauptschnur sind in geringen Abständen Vorfächer befestigt, an denen Kunstfliegen zum Fang von Äschen und Lenoks, aber sogar Köderfische oder Mausimitationen zum Taimenfang hängen. Mit dieser Montage am Ufer stromauf und stromab marschierend lassen sich sehr effizient große Gewässerflächen be- bzw. leerfischen. Wie Gewichte und Netzreste am Ufer bezeugen, sind hier aber auch noch drastischere Methoden gebräuchlich. Von der im Winter in Russland generell mit Vorliebe durchgeführten Eisfischerei ganz zu schweigen. |
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Wir kommen hier zu der Erkenntnis, dass auch große, flussbaulich vollständig unberührte Flüsse bei entsprechend intensiver Fischerei de facto leer gefischt werden können. Freilich spielt dabei auch das harsche Klima bzw. die geringe Produktivität dieses sibirischen Gewässers mit eine Rolle. Ich gehe davon aus, dass der reliktäre Fischbestand im Unterlauf im Wesentlichen von Abdrift- bzw. Ausstrahlphänomenen aus dem schwer zugänglichen Oberlauf zehrt. Bei den Äschen handelt es sich immer noch um Gelbschwanzäschen, die im gesamten Verlauf des Kleinen Enisei als einzige Äschenart auftreten dürften. Bei den kleineren Exemplaren sind die typischen Merkmale dieser Art weniger auffällig ausgeprägt. |
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In der Steppe
Die Landschaft am Unterlauf erinnert stark an die angrenzende Mongolei. Jenseits der Uferanbrüche und eines schmal entwickelten Auwaldes erstrecken sich weite Steppen, unbewachsene, trockene Hügel treten immer weiter in den Hintergrund. Das Gewässer ist durch meist einen oder zwei breite Hauptarme und eine Vielzahl oft mit Gehölzen bestandener Flussinseln gekennzeichnet. Wir legen Tagesetappen um die 50 km zurück, um die gesamte Strecke bis zur Vereinigung mit dem Großen Jenissei zeitgerecht zu bewältigen. Dort beginnt der eigentliche Jenissei, der bereits ein jährliches Mittelwasser von etwa Tausend Kubikmeter pro Sekunde führt. |
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Als wir schließlich am 18.
September unser Ziel, die Hauptstadt Kyzyl erreichen, streckt Väterchen
Frost hier auf 600 Meter Seehöhe seine eisigen Finger zum zweiten
Mal nach uns aus. Ein schneidend kalter Gegenwind wirbelt uns erneut Schneeflocken
ins Gesicht. In drei Wochen auf dem Boot haben wir es geschafft, eine enorme
Strecke über viele Vegetationsstufen, Landschaftsformen und Flusstypen
zu überwinden. Wir konnten dabei quasi eine Zeitreise zurück
in ein ursprüngliches Flusssystem ähnlich unserer Heimat erleben.
Bevor wir diese wieder sehen, gilt es noch im PKW 450 Kilometer auf der
gut ausgebauten Straße zum Flughafen in Abakan (Hauptstatt der Autonomen
Republik Khakassien) zurücklegen.
Clemens Ratschan |
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Taxifahrt durch endlose Steppe und Ausläufer des Sayan-Gebirges |
Gewidmet
in aufrichtiger Bewunderung jenen russischen Pionieren, die mit Schlauchkatamaranen
diese und noch deutlich schwierigere Wildwassertouren im Sayangebirge marschierend
(also ohne Pferde) erreichten und ohne moderne Sicherheitsreserven erstmals
befuhren.
Für
fachliche Hinweise bedanke ich mich bei Dr. Mikhail Skopets und Dr. Igor
Knizhin.
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Quellen
Brednarz, K. (2000): Ballade vom Baikalsee. Begegnungen mit Menschen und Landschaften. Lübbe Verlag, 421 S. Dybowski, B. (1874): Die Fische des Baikal-Wassersystemes. Verh. K.-K. Zool.-Bot. Ver. Ges. Wien 24(3/4): 383-394. Holcík
J., Hensel, K., Nieslanik, J. & Skácel, L. (1988): The Eurasian
Huchen, Hucho hucho,
Jungwirth M. & S. Muhar, Zauner G., Kleeberger J. , Kucher T. (1996): Die steirische Enns; Fischfauna und Gewässermorphologie, Universität für Bodenkultur, Abteilung Hydrobiologie, Fischereiwirtschaft und Aquakultur, Wien. Knizhin, I. B, Bogdanov, B. E, Matveyev, A. N., Samusenok, V. P. (2004): Fishes of Lake Baikal and reservoirs of its basin / Irkutsk State Univ. Press, 104 p. Knizhin, I. B. & Weiss, S. (2009): A New Species of Grayling Thymallus svetovidovi sp. nova (Thymallidae) from the Yenisei Basin and its position in the genus Thymallus. Journal of Ichthyology, 2009, Vol. 49, No. 1, pp. 1-9. Radin, A. G. (1997): Bericht über eine Reise zu Fuß und auf Wildwasser der Kategorie 5 im Gebiet der Mongolei und Tuwas auf der Route: Mungarag-Gol, Shishkhid-Gol, Kyzyl-Khem, Kaa-Khem im Jahr 1997. Bibliothek des Tourismusclubs der Stadt Moskau Nr. 5534. http://www.skitalets.ru/water/2005/mungarag_rodin/ (auf Russisch). Ratschan, C. (2008): An den mongolischen Quellen des Jenissej. Österreichs Fischerei 61(1): 32-36 (Teil 1) und 61(2/3): 65-72 (Teil 2). Hydrografischer Dienst in Österreich (2002): Hydrographisches Jahrbuch von Österreich 2002. 110. Band. Hydrografie Enisei: http://www.r-arcticnet.sr.unh.edu/v4.0/Tiles/arctic8.html Ortsbezeichnungen und Höhen: Russische Generalstabskarten 1:100.000 und 1:200.000 |
![]() Ein Bericht von Clemens Ratschan für www.fliegenfischer-forum.de. Das unerlaubte Kopieren und Verbreiten von Text- und Bildmaterial aus diesem Bericht ist verboten. zurück zu Russland und Asien | zurück zur Übersicht Reise & Report | zurück zur Startseite |