Von Jakutsk nach Ochotsk
Eine Fischereiexpedition auf den Spuren früher Entdecker
Teil 3/3: Portage und auf Lachsflüssen bis zum Meer
Ein Reisebericht von Clemens Ratschan
Die Portage von der Judoma (links) zur Ketanda (rechts)
Das GPS Gerät zeigt an, dass jetzt die Zeit gekommen ist, uns von der Judoma zu verabschieden: An dieser Stelle trennen uns nur knapp 20 Kilometer Luftlinie vom Fluss Ketanda im Einzugsgebiet des Ochotskischen Meeres. Schon seit Tagen diskutieren wir, ob wir diese Marschstrecke wieder im Expeditionsstil (zweimal gehen mit halber Last) oder im Alpinstil (gesamte Last auf einmal) bewältigen sollten. Weil die Nahrungsmittel schon zum Gutteil verbraucht sind, hat sich das Gewicht deutlich reduziert, es liegt aber immer noch bei ca. 45 kg pro Person. Wir entscheiden uns für den Alpinstil und schnüren unsere Pakete – unförmige, riesige Gebilde, die sich mit den Packsäcken nur unter Schmerzen länger (er)tragen lassen.
Die folgenden zwei Tage sollten die härtesten der gesamten Tour werden. Das Gelände ist recht flach, nur leicht hügelig, und über weite Strecken sehr nass. Mit so schwerem Gepäck Sümpfe zu durchqueren stellt uns vor eine fast unmenschliche Herausforderung. Wenn man auf die einen halben Meter hohen Seggenbulte steigt, biegen sie sich und häufig rutscht man weg. Tritt man in die dazwischen liegenden Senken, so sinkt man bis zu den Knien in den Morast. Teils brauchen wir eine Stunde für wenige hundert Meter lange Strecken. Die Portage bis zur Ketanda wird zur puren Quälerei. Etwas abkürzen können wir gegen Ende, als wir unsere Boote einen kleinen Waldbach stromab treideln. Doch dieser ist stark mit Holz verklaust, was ständig das Umtragen von Boot und Gepäck erfordert.
Schreckmoment – beim Zusammenrollen entdecken wir ein
Loch im Bootsboden, das sich glücklicherweise kleben lässt.
Wir schnüren unsere unförmigen Säcke und machen uns auf
den Weg durch den Sumpf...




Ein Bild sagt mehr als tausend Worte ...

Impressionen am „Weges“rand


Abkürzung per Boot

Als Lohn erwartet uns an der Ketanda eine Traumlandschaft. Der Fluss ist hier etwa so groß wie der Unterlauf der Ybbs oder Steyr und führt mit einem pendelnd-verzweigten Lauf durch die Taiga. Am Ufer stehen fast kitschig goldgelb verfärbte Lärchen. Es fällt sofort die reiche Tierwelt auf, wir beobachten Riesenseeadler, Möwen, Fischadler und Braunbären. An der Judoma war es noch fast gespenstisch ruhig, in der spätherbstlichen Taiga sahen wir dort kaum Vögel oder Tierspuren. Der Grund für das reiche Leben auf der anderen Seite der Wasserscheide ist schnell gefunden – ein später Aufstieg an Silberlachsen bietet auch den Tieren des Landes und der Lüfte eine schier unerschöpfliche Nahrungsressource.

Herbstlich verfärbte Wunderwelt an der Ketanda



Die Silberlachse stehen teils bereits auf den Laichplätzen, die nur alle paar Dutzend Kilometer im Bereich von steilen Furten und Nebenarmen liegen. Bei den Laichwanderungen dienen altarmähnliche Buchten als Raststationen, die von Silberlachsen in großer Zahl besetzt werden. Dazwischen fangen wir vereinzelt Pazifische Saiblinge (Salvelinus malma, „Dolly Varden“), die den aufsteigenden Lachsen folgen und sich von deren Eiern und nach dem Ablaichen verrottenden Kadavern ernähren.

Lachs-Laichplatz auf einer Furt
Jakob fischt vom Boot
Der erste Silberlachs – schon stark verfärbt

Milchner mit starkem Laichhaken
Bär mit stechendem Blick ...
... und niedlichen Plüschohren
Eine Hauptattraktion in diesem Fluss bietet eine besonders schöne Form der Ostsibirischen Äsche (Thymallus arcticus) pallasii). Sie zeichnet sich durch eine sehr große Rückenflosse mit einem auffälligen, zu langen Streifen verbundenen Farbmuster aus. Auch ein rötlich gefärbter Schwanzstiel ist charakteristisch. Leider fehlt die Zeit fürs Trockenfliegenfischen während der nachmittäglichen Steigphasen der zahlreichen Äschen. Die temperamentvollen Fische nehmen aber auch größere Streamer und Jigs, die wir zum Fang der Lachse und Saiblinge einsetzen.

Ostsibirische Äsche mit wunderschöner Rückenflosse

Schöne Abendstimmung – wieder einmal eine 50-Kilometer-Tagesetappe erledigt!

Flusslandschaften an der Ketanda



Eindrücke aus dem Lager ...


Weil wir mit früh Aufstehen und Paddeln bis in die Abenddämmerung gut Strecke machen (Tagesschnitt jenseits der Wasserscheide: 55 Kilometer pro Tag), bleibt nahe der Mündung der Ketanda in den Urak Zeit für ein paar Stunden Fischerei. Wir finden einen Altarm, der gerammelt voll mit rastenden Wanderfischen ist. Fast jeder zweite Wurf bringt den Biss eines Silberlachses oder eines Dolly Varden Saiblings. Doch ein Biss fühlt sich anders als die bisherigen an – es folgt kein rascher Sprint wie bei einem Silberlachs, und der bockende Fisch am Ende der Leine ist stärker als es ein Dolly Varden sein könnte. Hoch erfreut kann ich den ersten und einzigen Ostsibirischen Saibling (Kundscha, Salvelinus leucomaenis) der Reise landen, bei 87 cm Länge bereits ein hoch kapitales Exemplar. Was für ein Brocken von einem Saibling!

Weiter oben: In diesem Altarm kurz vor der Mündung in den Urak geht’s rund – Biss auf Biss!
Oben und unten: Silberlachse und Dolly Varden aus dem Altarm



Kapitaler Kundscha (87 cm)
Kurz darauf erreichen wir die Mündung der Ketanda in den Urak und finden uns plötzlich in einem wirklich großen Fluss. Der Urak (Einzugsgebiet ca. 10.700 km²) verzweigt sich in einem kilometerbreiten Schotterbett und gibt uns einen Eindruck, wie die Unterläufe großer heimischer Flüsse wie Inn, Salzach oder Traun wohl ursprünglich ausgesehen haben mögen. Bei fast drei Promille Gefälle fließt der Urak noch sehr rasch, sodass auch der bereits nach Meer riechende Gegenwind den arg strapazierten Zeitplan nicht mehr gefährden kann. 

Eine kurze Durchbruchsstrecke mit Wildwasser III - IV als letzte der vielen Herausforderungen dieser Reise wird gemeistert, dann folgt nur mehr „Kilometerfressen“ mit zunehmend kraftlosen Paddelschlägen. Insgesamt haben wir auf den befahrenen Flüssen etwa 1.300 Höhenmeter in der Vertikalen zurückgelegt. Pünktlichst kurz vor Sonnenuntergang am Tag vor unserem Rückflug erreichen wir die brackige Bucht an der Mündung des Urak ins Meer. Endlich – zeitgerecht und gesund hier stehend fällt eine riesen Last von unseren Schultern. Vorfreude auf das angenehme Leben in der Zivilisation kommt auf, ohne tagtägliche Schinderei bis zur Erschöpfung. Auch ein Gefühl des Stolzes, in den vergangenen vier Wochen mehr als 750 Kilometer in schwierigem Gelände aus eigener Kraft zurückgelegt und etwas nicht ganz Alltägliches geleistet zu haben, lässt sich nicht leugnen.

Riesenseeadler


Urak – plötzlich auf einem großen Fluss!



Wunderbare Flusslandschaft am Urak-Mittellauf

Durchbruchsstrecke am Urak-Unterlauf



Geschafft!
Ein zufällig am Strand passierender Geländewagen hält, der freundliche Russe organisiert uns den Transport in die 40 Kilometer entfernte Kleinstadt Ochotsk (gut 4.000 Einwohner) inkl. einer Querung des Ochota-Flusses per Motorboot. Wenige Stunden später sitzen wir vollbärtigen Naturburschen wieder in einem beheizten Haus; Regen und Sturm des wilden Ochotskischen Meeres peitschen an die Fenster. 
Was sind wir froh, Tags darauf in ein Flugzeug steigen zu können und nicht ein hochseetaugliches Boot zusammenzimmern zu müssen, wie die Mannschaft um Vitus Bering. Diese stach erst im siebenten Jahr nach dem Aufbruch von St. Petersburg Richtung Kamtschatka in See, überwinterte dort und segelte im Jahr darauf bis nach Alaska. Die Leistungen dieser Entdecker lernt man erst wirklich schätzen, wenn man am eigenen Leib gespürt hat und erahnen kann, was schon die Anreise bedeutet haben muss. Bering verstarb auf der nach ihm benannten Insel vor Kamtschatka, der überlebende Teil seiner Mannschaft meisterte auch den Rückweg – zurück nach Europa führte er von Ochotsk nach Jakutsk.
Route Berings von Jakutsk (links oben) bis Alaska. Quelle: Jeffreys (1776)
Flug über den Amur – beim großen Hochwasser 2013 war der Fluss 10 bis 20 Kilometer breit!
Quellen und Inspiration
- Bogutskaya, N. (2013): Freshwater Ecoregions of the World. 614: Okhotsk Coast. http://www.feow.org/ecoregions/details/okhotsk_coast
- Dall, W. H. (2000): A critical review of Bering's first expedition, 1725-30. Together with a translation of his original report on it. Ye Galleon Press, Washington. 85 S. 
- Denton, V. L. (1924): The Far West Coast. J. M. Dent & Sons Ltd., Toronto. 295 S. 
- Evljuchin, V. (2003): Bericht einer Reise zu Fuß und am Wasserweg im östlichen Jakutien und im Norden der Region Chabarowsk (auf Russisch). http://www.skitalets.ru/foot/2007/yakutiya_izotov/
- Jefferys, T. (1776): The Russian Discoveries, from the Map Published by the Imperial Academy of St. Petersburg. London, Printed for Robt. Sayer, Map & Printseller, No. 53 in Fleet Street. 
- Laut, A. C. (1905): Vikings of the Pacific. The Adventures of the Explorers who came from the West, Eastward. The Macmillan Company, New York. 349 S.
- Prokein, R. (2012): Die Entdeckung des Kältepols Jutschjugei. Books on Demand Verlag. 200 S.
- Skopets, M. (2007): Mit der Fliege im Fernen Osten (auf Russisch). Moskau. 304 S.
- Steller, G. W. (1793): Von Kamtschatka nach Amerika mit Vitus Bering. Nachdruck der Originalausgabe von 1793. Salzwasser Verlag, 133 S.
- Weiss, S., Knizhin, I., Kirillov, A. & Frouve, E. (2006): Phenotypic and genetic differentiation of two major phylogeographical lineages of arctic grayling Thymallus arcticus in the Lena River and surrounding Arctic drainages. Biological Journal of the Linnean Society 88: 511-525. 
- Ortsbezeichnungen und Höhen: Russische Generalstabskarten 1 : 200.000
- Hydrologie: ArcRIMS Pegel Udoma/Kurun-Targyukah. http://rims.unh.edu/data/station/station.cgi?station=6248
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Ein Reisebericht in drei Teilen von Clemens Ratschan für www.fliegenfischer-forum.de - August bis Oktober 2014.
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