Auf der Junjacha 
Packrafting! Hinter diesem Stichwort verbirgt sich in Abenteurer-Kreisen eine kleine Revolution. Bei Packrafts handelt es sich um kleine, robuste Schlauchboote, die weniger als 3 kg wiegen. Mit diesen Vehikeln lassen sich lange Wildnistouren realisieren, wobei das geringe Gewicht einen problemlosen Wechsel zwischen Marschieren, im Boot stromab Fahren oder stromauf Treideln ermöglicht. Packraftern eröffnet sich ein ganz neuer Blick auf Landschaften – Wasser und Landwege können fast beliebig zu interessanten Routen kombiniert werden.

Wir, das sind Jakob, Moritz und ich, wollen mit Packrafts den Polarural überqueren. Was die Reise besonders spannend macht, ist dass dies- und jenseits des Gebirges unterschiedliche Fischarten vorkommen. Der Ural ist aus dem Geografieunterricht als Grenze zwischen Europa und Asien bekannt. Das an Erzen reiche Gebirge zieht sich in Nord-Südrichtung über eine Länge von 2400 km und ist abschnittsweise nicht allzu hoch. Die beiden nördlichsten der fünf Abschnitte des Urals, der Subpolarural und der Polarural, weisen bei Höhen bis knapp 1.900 m aufgrund der hohen geografischen Breite aber Hochgebirgscharakter auf. 

Etwas Besonderes sollen die An- und die Rückreise unserer vierwöchigen Reise werden – wir wollen dazu von Österreich aus die Eisenbahn benützen. Als Ausgangspunkt der Wildnistour wählen wir die kleine Haltestelle Schor, die etwa 50 km westlich des Ural-Gebirges auf europäischer Seite liegt. Erstaunlich, dass diese Haltestelle (ein dazu gehöriges Dorf gibt es nicht einmal) ab Wien mit nur einmal Umsteigen erreichbar ist! Unsere Verbindung geht über Tschechien und Polen über Weißrussland nach Moskau und von dort weit Richtung Nordost. Insgesamt benötigen wir für die mehr als 4.000 Kilometer drei Tage. 

Wir verlassen Wien während der brütenden Hitzephase im August und freuen uns schon auf polare Gefilde. Ein dicker Vorrat an „Jausn“ und Büchern soll helfen, die Bahnfahrt gut zu überstehen. An der polnisch-weißrussischen Grenze wird die Spurweite von der europäischen „Normalspur“ auf die russische „Breitspur“ geändert. Dazu fährt der ganze Zug in eine Halle, die Waggons werden angehoben, das Fahrgestell wird getrennt und fährt heraus, ein neues Fahrgestell fährt darunter und wird montiert. Der gesamte Vorgang dauert zwei Stunden. Wieso man nicht einfach die Passagiere den Zug wechseln lässt – das wäre in 10 Minuten erledigt – bleibt schleierhaft. Nach dem Wechsel des Bahnhofs in Moskau in der beeindruckenden Moskauer Metro mit ihren als „unterirdische Paläste“ bezeichneten Stationen geht’s mit beschaulicher Fahrgeschwindigkeit durch die schier endlosen Laubwälder. Erst am zweiten Tag erreichen wir die ebenso endlos scheinenden Nadelwälder der Taiga und erhaschen die ersten Blicke auf den Ural.

Ändern der Spurweite durch Wechsel des Fahrgestells
F
Skyline von Moskau
Ankunft am „weißrussischen Bahnhof“
Moskauer Metro
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Ab Moskau fährt der Zug zwei weitere Tage durch endlose 
Wälder
In Schor ausgestiegen, begrüßen uns die für den nordischen Sommer typischen Stechmücken in unvorstellbarer Zahl. Wir schnüren unsere Rucksäcke, die etwa 43 kg wiegen (Proviant für 3,5 Wochen, Boot und übrige Ausrüstung). Der Marsch beginnt ein Stück auf der Bahntrasse bis zu dem Punkt, wo ein Mäander des Flusses Usa wenige Kilometer heran reicht. Dort geht’s quer durch die dichte Taiga bis zum Fluss. Immer noch bei Hitze, bei schwieriger Orientierung, ständigen Attacken durch die „russische Luftwaffe“ und vollem Gepäck fließt einiges an Blut und Schweiß.
Start der Marschetappe auf der Bahntrasse
... und weiter querfeldein durch die Taiga
Umso erfreulicher empfinden wir den Anblick der Usa. Dieser Fluss ist hier 300 m breit, die Uferböschungen sind bis viele Meter über den Wasserspiegel grün bewachsen aber baumfrei, was auf apokalyptische Eisstöße schließen lässt. Angesichts des schönen Wetters nutzen wir den Fluss für ein erfrischendes Bad, um den Schmutz der drei Tage dauernden Bahnfahrt los zu werden. Das erfolgt im Eiltempo, weil sofort lästige Kriebelmücken über uns herfallen. 

Wir blasen die Packrafts erstmalig auf, fahren bis zum Abend und den nächsten Halbtag stromab und kommen so dem Polarural schon etwas näher. Unterwegs starten wir erste Fischereiversuche auf fleißig steigende Fische. Es handelt sich dabei teilweise um Elritzen, die in ganzen Wolken am Ufer entlang schwimmen. Weiter draußen steigen aber größere Fische – es handelt sich dabei um Äschen. Kleine Streamer entpuppten sich als bester Köder für diese räuberischen Äschen, deutlich effektiver als Trockenfliegen oder Nymphen. Die gefangenen Äschen hatten tatsächlich vorwiegend Elritzen im Magen. Die Bachforelle kommt so weit im Nordosten nicht mehr vor, die Europäische Äsche (Th. thymallus) übernimmt hier ihre Position in der einfach gestrickten Nahrungskette zwischen Elritze und Hecht.

Eisstöße prägen die baumfreien Ufer der Usa


Auf der Usa Richtung Uralgebirge
Europäische Äsche, gefangen auf Wooly Bugger
Hauptnahrung der Äschen: Elritzen
Bei der Usa handelt es sich um einen der größten Zubringer der Pechora, dem nordöstlichsten großen Fluss Europas. In fischfaunistischer Hinsicht hat das Gewässersystem der Pechora viel zu bieten, es ist für die hohe geografische Breite äußerst artenreich. Dafür ist vor allem die hohe Zahl von 13 Arten von Salmoniden (inkl. Äschen und Renken) verantwortlich, die hier an der Kontaktzone zur asiatischen Fauna vorkommen. Darunter Atlantischer Lachs, Sibirischer Taimen (verschollen), Europäische und Arktische Äsche sowie eine Reihe von Coregonen („Renken“, „Maränen“ etc.) inkl. des räuberischen Weißlachses (besser als „sheefish“ oder „inconnu“ bekannt). Leider sind viele dieser Bestände stark rückläufig. 

Den Endpunkt unserer kurzen Usa-Befahrung erreichen wir am Außenbogen einer Flußschleife. Dort beginnt ein „zimnik“, also ein Winterweg, der zu einem verlassenen Bauernhaus [russisch: Ferma Junjacha] führt. Elf Kilometer marschierend erreichen wir so den nächsten Fluss, die Junjacha. Nach der Schinderei auf dem sumpfigen Zimnik empfinden wir die 20 km Etappe im Packraft stromab fahrend erneut als reinste Erlösung.

Der sumpfige „zimnik“. Auf dem Weg finden wir ein 
kaputtes Fahrzeug, das an „Mad Max“ erinnert

Reste der „Ferma Junjacha“ Blick aus dem Fenster zur Junjacha

Weidenröschen, Junjacha und Polarural im Hintergrund

Damit sind wir den dunklen Bergen des Polarurals schon erkennbar näher gekommen und das östliche Ende der Taiga am Übergang zur baumlosen Tundra am Rand der Berge naht. Als nächste Etappe wollen wir die Boote einen kleinen Zubringer der Junjacha namens Palnik-Ju soweit wie nur irgend möglich hoch ziehen („treideln“), um den schweren Marsch über den angepeilten Pass des Urals tunlichst kurz zu halten. Mit dem Treideln kommen wir gut voran, etwa 10 Kilometer pro Tag lässt sich das beladene Boot problemlos gegen die Strömung ziehen. An der Grenze der Taiga wird ein Holzvorrat gebunkert, der am Abend das letzte Lagerfeuer nährt. Als am dritten Tag die Furten immer steiler und das Geschiebe immer gröber wird, gestaltet sich diese Marschvariante zunehmend schwierig. Zusätzlich windet sich der Bach immer mehr, sodass wir uns entschließen, die Luft der Boote auszulassen, uns vom Wasser zu lösen und durch die Tundra in möglichst gerader Strecke zum Pass weiter zu marschieren.



Eindrücke von der Treidelstrecke ... F



Lagerleben F

Wenn tiefes Waten notwendig ist, wird das Treideln 
anstrengend  |  Blick Richtung Berge

Auf dem Weg bis hierher hatten wir viele kurze Stopps zum Fischen eingelegt. In der Usa hatten wir nur kleine Äschen gefangen, in der Junjacha lag die Größe immer noch bei meist bescheidenen 30 bis 35 cm. Wir hoffen, die großen Exemplare weiter oben im Zubringersystem zu finden.

Leider entpuppt sich der Fischbestand im Palnik-Ju als sehr gering. Steigende Äschen sind nur an ganz wenigen Stellen auszumachen. Findet man sie, sind sie im Nu gefangen, sowohl mit Trockenfliegen als auch mit Streamern. Steigen in einem Pool keine Äschen, fängt man auch nichts – wahrscheinlich also „keine zuhause“. Als produktiv erweist sich nur eine große Bucht, wo ein Zubringer aus einem nahe gelegenen See einmündet. Fleißig steigen Äschen und nehmen sorglos meine Trockenfliegen, während Jakob mit dem Blinker leer ausgeht. Auch den gesamten Rest der Reise zeigt sich, dass Fliegen, sowohl dunkle Streamer als auch Trockenfliegen auf die Äschen bei weitem fängiger sind kleine Spinnköder. 

Am dritten Treidel-Tag finden wir leider immer noch keine wirklich ergiebige Fangstelle mit größeren Äschen. Schon ganz weit stromauf treffen wir auf einen besonders tiefen Kolk mit einem überhängenden Busch. Dort bringt der erste Wurf eine 51 cm Äsche, gefolgt von zwei weiteren um 50 cm. Die großen Äschen führen wohl im Sommer Wanderungen weit stromauf durch. Nach langer Durststrecke drei Kapitale in drei Minuten, da fühlen sich wohl nicht nur die Fische überrumpelt, sondern wir Fischer selbst irgendwie auch …

Kapitale Europäische Äsche
Spitzes, unterständiges Maul, wie für Europäische Äschen typisch
Kapitale Europäische Äsche
Fangplatz der drei Kapitalen
Lager am Oberlauf in der Tundra

Nahrung aus der Natur (Äschenfilets, Birkenpilze, Molte- und Heidelbeeren)
Bisher wurden uns bei warmer Witterung ohne Wind die Kriebel- und Stechmücken zur Plage. Wir erwarten sehnlich Nachtfröste und Wind, damit diese Plage endlich abnehme. Ein bekannter Spruch lautet: Wen Gott strafen will, dem erfüllt er seine Wünsche. Und so sollte es auch mit unserem Wunsch nach Wind kommen: In den vergangenen Tagen hat sich dieser immer weiter aufgebaut und erreicht jetzt während der heftigen Böen Orkanstärke. Das Kochen auf dem Feuer dauert sogar mit Windschutz eine halbe Ewigkeit. Auch die goldene Seemannsregel verliert bei diesen Windgeschwindigkeiten ihre Gültigkeit, „Geschäfte“ werden tunlichst nicht im turbulenten Luv, sondern im rechten Winkel zum Sturm verrichtet. Schwarz und bedrohlich thront der Polarural über der Tundra und schickt uns seine Unheil bringenden Windstöße und Schauer herab, bei Temperaturen knapp über Null.
Trotz des Windschutzes dauert das Kochen bei Sturm eine 
gefühlte Ewigkeit

Treideln im steilen Oberlauf O



Die Luft wird ausgelassen – weiter geht’s wieder auf dem 
Fußweg

Notgedrungen und durchfroren machen wir an einem der wenigen geeigneten Plätze Lager, wo der sonst torfige oder sumpfige Boden die Zeltheringe halten könnte. Der Sturm peitscht und verwindet die Zeltwand, sodass das Zerreißen unausweichlich scheint. Doch unsere Trutzburg in der Tundra hält, wir verbringen einen langen bangen Tag darin. Am Morgen nach der zweiten Nacht weiter Sturm und Unsicherheit, ob wir uns in noch stärker exponiertes, alpines Gelände vorwagen sollen – angesichts des Risikos eines Zeltbruchs und ohne Feuerholz könnten uns dort bedrohliche Situationen erwarten.

Kaum Windschutz in der Tundra!



Gewaltmarsch bei „Sauwetter“
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Doch wir entschließen uns für einen Versuch und haben Glück! Während des Marsches bessert sich das Wetter und der Sturm lässt nach. Stunden später passieren wir über Geröllhalden und Schneefelder den Pass, der nur auf knapp 400 m Seehöhe liegt, und überschreiten die kontinentale Wasserscheide. Wir befinden uns in Asien, Adresse Westsibirien! Unsere Freude ist überwältigend, denn von nun an geht’s nur mehr bergab! Schon nach einer weiteren Stunde Marsch können wir die Packrafts aufblasen und legen damit noch ein Stück in dem vom Regen angeschwollenen Wildbach zurück. Was wird uns in diesem Flusssystem erwarten, das wir bis zur Mündung in den Ob hinunter befahren und befischen wollen?



Endlich auf dem Pass!

Die spannende Fortsetzung erfahren Sie im zweiten Teil dieses Reiseberichtes:



Ein Reisebericht in zwei Teilen von Clemens Ratschan für www.fliegenfischer-forum.de - Januar/Februar 2016. Das unerlaubte Kopieren und Verbreiten von Text- und Bildmaterial aus diesem Bericht ist verboten.
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